Newsletter August 2019
Russland ist an Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen interessiert
Herr Shokhin, Sie sind Präsident des Russischen Verbands für Industrielle und Unternehmer (RSPP) und repräsentieren damit zahlreiche namhafte russische Unternehmen. Inwiefern gewinnt das Thema Digitalisierung innerhalb der russischen Wirtschaft zunehmend an Bedeutung?
Die Digitalisierung durchdringt aktiv alle Bereiche der russischen Wirtschaft. Infolgedessen hat sich bei uns der Begriff Industrie 4.0, der für eine neue Entwicklungsstufe der Automatisierung von Produktions- und Logistiknetzwerken steht, bereits etabliert. Mit jedem Jahr haben russische Unternehmen eine immer stärkere Präsenz auf dem internationalen Markt und die Zahl der Hightech-Unternehmen, die Best-in-Class-Produkte und -Dienstleistungen in ihrem Bereich anbieten, wächst. Immer mehr russische Firmen wählen den Weg der Transformation zu einem digitalen, intelligenten Unternehmen – also einem gut geführten, flexiblen und hocheffizientem Unternehmen, das Innovationen bei Produkten und Dienstleistungen mit dem Einsatz geeigneter digitaler Werkzeuge kombiniert, um die Umsetzung der entwickelten Strategie des Unternehmens sicherzustellen.
In welchen Industriezweigen sehen Sie die größten Auswirkungen?
Eine der auffälligsten Veränderungen findet im Industrie- und Rohstoffbereich statt. Die vielversprechendsten Bereiche der digitalen Zusammenarbeit sind nicht nur der Maschinen- und Flugzeugbau, der Schiffbau, die Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie, die Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur, sondern auch die Metallurgie, die Förderung von Kohlenwasserstoffen und der Bergbau. Um in der digitalen Welt wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir jetzt neue Technologien nicht nur beherrschen, sondern auch ihre Entstehung so früh wie möglich erkennen. Aus diesem Grund analysieren immer mehr russische Unternehmen globale technologische Trends, die es ermöglichen, die vielversprechendsten Informations- und Digitaltechnologien und ihre Anwendungsbereiche zu identifizieren und zu bewerten und den Grad der Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung von Unternehmen zu verringern.
Und in welcher Hinsicht sehen Sie noch Luft nach oben?
Vor einem Jahr führte der RSPP unter den Teilnehmern der Russian Business Week eine Umfrage über den Grad der Digitalisierung von Unternehmen durch. Fast 80 Prozent halten ihr Unternehmen für digital. Gleichzeitig versteht jedoch nur jeder fünfte Befragte (19%), dass Daten eine Schlüsselrolle bei der Digitalisierung spielen. Ein weiteres interessantes Ergebnis der Umfrage war, dass weite Teile der Kunden, die Dienstleistungen der größten russischen IT-Unternehmen wie beispielsweise Yandex oder Kaspersky Lab in Anspruch nehmen, Probleme bei der Informationssicherheit sehen (38%) oder der Meinung sind, dass der IT-Sektor in Russland noch immer unterentwickelt ist (30%). Einen weiteren aufschlussreichen Wert lieferte das Rostelekom, eines der führenden Telekommunikationsunternehmen des Landes: Es bewertete den Beitrag jedes Landes zur internationalen Entwicklung von Digitalisierungstrends. Länder mit hohem Rating haben das größte Potenzial, die breite Einführung von neuesten digitalen Technologien auf ihrem Gebiet zu gewährleisten. Russland belegt den 11. Platz in der globalen Bewertung der Entwicklung von Digitalisierungstrends. All dies zeigt, dass es trotz unserer Erfolge noch Verbesserungspotential gibt.
Welche Initiativen wurden vonseiten der Regierung in der jüngsten Vergangenheit gestartet, um mithilfe der Digitalisierung die heimische Wirtschaft zu modernisieren?
Mit der Implementierung des nationalen Programms „Digitale Wirtschaft der Russischen Föderation“, an dem RSPP-Mitglieder aktiv teilnehmen, wurde eine Politik der Digitalisierung auf staatlicher Ebene eingeleitet. Mithilfe dieses nationalen Programm sollen die Infrastruktur verbessert und Regulierungsmöglichkeiten für den Übergang zu digitalen Grundlagen geschaffen werden. Deswegen sollen in den kommenden fünf Jahren 1,8 Billionen Rubel (knapp 24 Milliarden Euro) für die Digitalisierung der russischen Wirtschaft bereitgestellt werden.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die russischen Vertreter des Rohstoffbereichs?
Die Modernisierung des Rohstoffsektors, einschließlich der Automatisierung von Geschäftsprozessen, wird es der russischen Wirtschaft insgesamt ermöglichen, ihren technologischen Rückstand zu reduzieren. Gleichzeitig ist es notwendig, ein günstiges regulatorisches Umfeld zu schaffen: den rechtlichen Rahmen der digitalen Wirtschaft und ein System der rechtlichen Regulierung von ihren Institutionen. Ferner benötigen wir noch größere öffentliche und private Investitionen in die Forschung und Entwicklung im Bereich der digitalen Industrietechnologien.
Ich möchte hinzufügen, dass spezialisierte Kompetenzen in den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) zu den Schlüsselkompetenzen für die wirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum der Arbeitsproduktivität gehören. In Russland machen die IKT-bezogenen Berufe nicht mehr als 2 Prozent der Gesamtzahl der Beschäftigten aus, und wir sollten uns bemühen, diesen Indikator deutlich zu erhöhen. Bereits 2022 werden rund 22 Prozent der neuen Arbeitsplätze in der Weltwirtschaft durch neue digitale Berufe besetzt sein. Severstal und die Novolipezk-Metallurgiewerke (NLMK) sind da gute hiesige Beispiele, da sie Möglichkeiten zur Umschulung von Mitarbeitern und zur digitalen Weiterbildung bieten. Digitale Kompetenzen werden auch Teil der neu geschaffenen und aktualisierten Berufsstandards sein, die vom Nationalen Rat für Berufsqualifikationen entwickelt werden, dessen Leiter ich bin. Digitale Kompetenzen werden künftig also umfänglich in das nationale russische Qualifikationssystem integriert.
Sie haben Severstal und die Novolipezk-Metallurgiewerke als Erfolgsbeispiele angesprochen. Gibt es weitere?
Generell kann man sagen, dass der Arbeit mit innovativen Technologien hierzulande viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Blockchain, Big Data, Machine Learning – dies sind natürlich einige Schlüsseltechnologien. Auf der Grundlage dieser Werkzeuge schaffen russische Industriegiganten bereits jetzt einzigartige Produkte, die in der Branche sehr gefragt sind. So überwacht das erste Pilotprojekt in Russland, das von einem Team von NLMK- und SAP-Fachleuten für die 3D-Positionierung von Personal in Echtzeit entwickelt wurde, alle Bewegungen von Mitarbeitern und Änderungen in den Betriebsmodi der Anlagen, verhindert Notfallsituationen und erhöht somit die Sicherheit des Personals unter gefährlichen Produktionsbedingungen. Zusätzlich schafft das Staatliche Industrie-Informationssystem, das langfristig zu einem „Digitalisierungsportal“ werden soll, neue Möglichkeiten der Digitalisierung von Förderverfahren. Dabei geht es nicht nur um das Informieren über bestehende Maßnahmen der Branchenförderungzu, sondern auch um die Möglichkeit, Dokumente für jede Förderungsform auf digitalem Weg einzureichen. Dies ist eine Standardpraxis, die, da sind wir uns sicher, bei ausländischen Unternehmen wegen der erhöhten Transparenz und Effektivität gefragt sein wird.
Im Allgemeinen – und in vielerlei Hinsicht ist es der Verdienst des Ministeriums für Industrie und Handel der Russischen Föderation – sind viele Förderungsinstrumente in der Industrie neutral in Bezug auf das Herkunftsland des Unternehmens, und stimulieren sowohl die Durchführung rein russischer Projekte als auch die Lokalisierung ausländischer Produktion.
Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands in diesem Prozess?
Man sollte das Problem und das Potenzial der Digitalisierung nicht als nationale Herausforderung sehen, sondern als internationale. Internationale Erfahrungen bei der Nutzung digitaler Möglichkeiten sind sehr interessant und helfen unseren einheimischen Unternehmen, die besten Lösungen in kürzester Zeit umzusetzen. Jedes Land verfügt über Best Practices, und diese sollten gleichwertig geteilt werden. Zweifellos zählt Deutschland zu jenen Länder, deren Erfahrungen von großem Interesse für uns sind. Deshalb arbeiten wir im Rahmen der Deutsch-Russischen Initiative für Digitalisierung (German-Russian Initiative for Digitalization, GRID) aktiv an unserem gemeinsamen Ziel, das Ökosystem der globalen digitalen Wirtschaft und des globalen digitalen Raums durch den Transfer von Best Practices und den Austausch digitaler Erfahrungen zu gestalten. Mitglieder der Initiative sind SAP, Siemens, Bosch, Volkswagen Group Rus, Remondis, die Außenhandelskammer und der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, RSPP, Rostelecom, Skolkovo Foundation, Rostec, Zyfra, TMK Group, Sinara Group, Kaspersky Lab.
Was erwarten Sie sich von dieser Initiative?
Ein derartiger Erfahrungsaustausch zur Digitalisierung wird dazu beitragen, die Qualität der gemeinsam hergestellten Produkte weiter zu verbessern und ihren Marktanteil erhöhen. Durch die Zusammenarbeit können wir die Entwicklung innovativer Technologien in Russland beschleunigen, sodass Innovationen in der Produktion künftig schneller zum Einsatz kommen. Deshalb sehe ich GRID als ein wirksames Instrument zum gemeinsamen Austausch über von Best Practices im Bereich der Digitalisierung.
Inwiefern können deutsche Firmen dazu beitragen, Russland bei seinen Ambitionen zu unterstützen?
Russland ist nach wie vor stark an der Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen interessiert. Insbesondere wenn es um Technologien zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, um die Modernisierung von Industrieanlagen oder die Einführung effizienter Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette geht. In diesem Zusammenhang gehört auch der Erfahrungsaustausch zwischen deutschen und russischen Behörden bei der Förderung von Innovation, Kompetenzentwicklung und dem Abbau administrativer Barrieren dazu.
Auf der anderen Seite braucht auch Deutschland geeignete Partner, wenn es sein Ziel erreichen möchte, die Produktivität durch Innovationen zu steigern und zu einem führenden Anbieter von integrierten Lösungen zu werden. Und russische Unternehmen mit ihren Technologien sehe ich durchaus als mögliche Partner. Es gibt gute Gründe zu glauben, dass es in Russland mehr fertige Lösungen gibt, und die Entwicklung und Pilotierung von Technologien qualitativ besser und günstiger ist.
Russland liegt laut „Environmental Performance Index 2018“ auf Platz 52 und zählt damit zu jenen Ländern mit einer „schlechten Leistung“ im Umweltschutz. Wie kann die Russische Regierung in Kooperation mit der Industrie und ausländischen Partnern perspektivisch den Umweltschutz stärken?
Ökologie und Umweltschutz genießen seit einiger Zeit deutlich höhere Priorität innerhalb der russischen Wirtschaft. Das hängt auch mit den neuen rechtlichen Rahmenbedingungen zusammen, die beispielsweise die Nutzung neuester Technologien regeln oder ein Quotensystem für schädliche Luftemissionen oder die Wasserentsorgung beinhalten. Perspektivisch sollen Unternehmen dazu gebracht werden, moderne Technologien zu nutzen, um schädliche Luftemissionen zu verringern und somit ihre Umweltparameter radikal zu verbessern. Darüber hinaus ist die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens zu erwähnen, das die Kohlendioxidemissionen in die Atmosphäre regelt. Dieser Faktor wird künftig in Russland – nicht zuletzt auch im Rohstoffsektor – viel stärker berücksichtigt werden.
